Impulsgeber Didier Eribon
Wie das Selbst ergründen, wie literarisch verarbeiten? Und welche Rolle spielt die Milieuzugehörigkeit, die Herkunft? Bei der KOOKread-Veranstaltung „The Making of Selbst“ am 14.5.2019 diskutieren Daniela Dröscher, Dilek Güngör und Matthias Nawrat mit Moderator Jan Böttcher über autobiografisches Schreiben.
Voller noch als am ersten Abend der neuen KOOKread-Reihe „Texte, Sounds, Diskurse“ ist das ACUD-Studio bei der zweiten Veranstaltung, die unter dem Motto „The Making of Selbst“ steht. Autor und Musiker Jan Böttcher, selbst Gründungsmitglied von KOOK, ist der Kurator dieses Abends, bei diesem Thema, mit dem er sich intensiv auseinandergesetzt hat. Das Ich in der Literatur sei nichts Neues, sagt er, mit jeder Welle aber mächtiger geworden. Er zählt mehrere wichtige Autor*innen und Werke des Spektrums auf: „Die Welt im Rücken“ von Thomas Melle, „Leben“ von David Wagner, „Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf, aber auch Karl Ove Knausgård, Annie Ernaux, Emmanuel Carrère, Rachel Cusk und natürlich Didier Eribon.
Die Lektüre von Didier Eribon war es auch, die Daniela Dröscher den Impuls gab, „Zeige deine Klasse!“ zu schreiben, wie sie im Gespräch mit Jan Böttcher verrät. Zunächst aber liest sie eine Stelle aus ihrem Buch vor, in der Dröscher ihre Zeit an der Universität Trier und den linkspolitischen Kreisen, in denen sie zwar sozialisiert, aber nicht politisiert wurde, beschreibt. „Ich wurde zur Aktionistin statt Aktivistin“, so die Autorin. Wichtiger noch sei der Milieuwechsel gewesen – oder zumindest der Versuch dessen: „Ich wollte eine Herkunft.“
Stilistisch ist „Zeige deine Klasse!“ aufgebrochen, es gibt Listen, Fragebögen und Fußnoten. „Auf eine Weise ist es ein kindliches Buch“, sagt Dröscher. Aber vor allem ein essayistisches, eine Form, mit der sie einst anfing zu schreiben. Jetzt wählte sie das Selbst als Gegenstand ihrer soziologischen Betrachtung, eine schwierige Perspektive, wie sie zugibt. Eribon half ihr dabei, Abstand zu gewinnen. „Ich habe das gelesen, und plötzlich wurde mir das fehlende Puzzleteil in meinem Schreiben klar“, so Dröscher. „Ich habe oft über Fremdheit geschrieben, aber das nicht mit sozialer Herkunft verbinden können. Das war mein blinder Fleck.“
Böttcher, der die „kleinbürgerlichen Wurzeln“, so formuliert er es, mit Dröscher teilt, kann den Wunsch nach einem Milieuwechsel, aber auch die Schwierigkeiten, sich mit einer konkreten Szene zu identifizieren, nachvollziehen. „Erst 20 Bände von Marx und Engels auf dem Flohmarkt kaufen und dann ins Plenum gehen – das war nicht meins, das war zu hart“, sagt er rückblickend. „Aber ich wollte auch hoch.“ Sie sei im Studium der Illusion aufgesessen, alle seien gleich, ergänzt Dröscher, die feinen Unterschiede habe sie nicht bemerkt. Gegen die soziologische Einordnung als „kleinbürgerlich“ verwehrt sie sich aber bis heute: Es klänge in ihren Ohren noch immer abwertend.
Zuletzt interessiert Jan Böttcher, ob ihr das Verfassen von „Zeige deine Klasse!“ schwergefallen sein. „Immerhin stehen alle Erlebnisse, die man mit zwanzig hatte, auf dem Prüfstein. Man liest sie jetzt als bestimmte Prägung und nicht mehr als reines Erlebnis.“ Das Buch sei keine Autobiografie, entgegnet Dröscher, sondern ein „autosoziobiografischer Selbstversuch“: „Ich schaue mit einem Filter auf mein Leben. Das ist zwar sehr persönlich, aber auch überpersönlich.“ Die Familie fungiere nämlich als Repräsentant. Jan Böttcher zitiert einen Satz, der für ihn der Kern des Buches ist: „Kaum etwas ist trostloser als sich für jemanden, den man liebt, zu schämen.“ Dröscher erklärt: „Ich habe nicht in Loyalität, sondern in Solidarität mit meinen Eltern geschrieben“, sagt sie. Sie habe versucht, die Eltern besser zu verstehen.
Als nächstes betritt die Journalistin und Kolumnistin Dilek Güngör die Bühne, die, wie sie sagt, „hingerissen“ sei von Daniela Dröschers Buch. Sie liest den Anfang aus „Ich bin Özlem“, in dem die Protagonistin ihre schon in frühester Kindheit tiefsitzende Angst, sie könne zu stark nach Essen riechen und deswegen diskriminiert werden, beschreibt, eine Angst, die sie ihr Leben lang nicht loslässt. Diese „Selbstgeißelung“, O-Ton Jan Böttcher, steigert sich im Laufe des Romans. Er zitiert: „Ich entkomme dieser elenden Herkunft nicht… Ich selbst mache aus mir eine Türkin.“
Güngör wählt einen sehr subjektiven Zugang – warum bleibt die gesellschaftliche Perspektive außen vor? „Ich wollte alles aktuelle Politische rauslassen“, antwortet die Autorin Zum einen sei es technisch schwierig, weil zwischen dem Ende des Schreibprozesses und der Veröffentlichung eine Lücke entstünde, und der Roman somit schon nicht mehr auf dem neuesten Stand sei. „Ich schweige noch aus einem anderen Impuls“, sagt Dilek Güngör. „Ich wollte nicht recherchieren müssen, nichts von außen reinholen. Ich lese lieber Texte, in denen ein Ich lebt – mehr Essenz und weniger Debatten.“
Ihre Protagonistin Özlem fühlt sich angegriffen (auch vom Freundeskreis) und erlebt einen Zwiespalt, der nicht aufgelöst wird: Diese Empfindung, nicht „von hier“ zu sein, nicht dazuzugehören – wie weit ist das eine Zuschreibung von außen, und wie viel davon kommt aus ihr selbst? Das Thema Herkunft bleibt an ihr haften. „Dabei ist das Gefühl, nicht genug zu sein, universell, jeder kann das nachvollziehen.“ Und deswegen verwehrt sich Dilek Güngör gegen die Lesart, „Ich bin Özlem“ sei ein aktueller Roman. „Ich bekomme oft gesagt, das Buch passe in diese Zeit. Für mich ist das aber keine neue Debatte.“
Auch Matthias Nawrats Ich ist in seinem Roman zu finden. Der Protagonist in „Der traurige Gast“ hat mehrere Überschneidungen mit seinem Erfinder: Er ist vierzig, wohnt in Berlin-Gesundbrunnen, kommt aus Polen und ist Schriftsteller. Nawrat entscheidet sich ebenfalls für den Anfang und liest Auszüge aus dem Kapitel „Die Architektin“ vor. Auf das mehrfache laute Lachen des Publikums, vor allem bei der Beschreibung des geschmacklosen, gummiartigen Kuchens, den ihm die Architektin vorsetzt, reagiert er etwas verwundert: „Eigentlich ist das ein trauriges, dunkles Buch.“
Jan Böttcher macht in Nawrats Roman eine „umgedrehte Gesprächssituation“ aus im Vergleich zu anderen Texten, die aus der Ich-Perspektive geschildert sind. Der Protagonist ist passiv, wie ein leeres Gefäß. Matthias Nawrat bestätigt das und setzt dem noch eins drauf: Die Architektin sei, indem sie ihm immer mehr von ihrem Leben und ihren Traumata erzählt, „gewalttätig“. Und so ergeht es seiner Hauptfigur im gesamten Roman, „er stolpert in viele Mikrowelten, aus denen er nicht mehr wegkommt“.
Zu dem Stoff fand er, als er vor drei Jahren nach Berlin zog, berichtet Nawrat. „Ich bekam das Gefühl, nicht mehr so schreiben zu können wie bisher.“ Also ging er aktiv raus und notierte seine Beobachtungen später in einem Tagebuch. Der „Versuch, die Wirklichkeit einzufangen“, sei eine „interessante Fiktion“, sagt er. „Das hat meine Stimme erzeugt: Der Erzähler verschwindet immer mehr. Vom Tagebuch ausgehend habe ich mich selbst liquidiert.“ Viele der Figuren seien – zumindest in einigen Details – aus konkreten Vorbildern oder Beobachtungen entstanden. Besagter Kuchen, der zuvor für so viel Erheiterung gesorgt hatte, gibt es wirklich, „den macht die Cousine meiner Mutter“. Interessiert haben ihn aber existenzielle Themen. „Der verlorene Gast“ sei „eine moderne Gottsuche, ohne an Gott zu glauben, die Suche nach einem tieferen Sinn. Deswegen ist das Narrativ auch so zerstückelt.“
Bei der anschließenden Diskussion mit allen Autor*innen kommt Moderator Jan Böttcher wieder auf Didier Eribon zurück, der in „Rückkehr nach Reims“ konstatiert, der Abstand zwischen den Herrschenden und den Beherrschten verringere sich nicht. „Nimmst du das auch wahr?“, fragt er an Daniela Dröscher gerichtet. „Selbstverständlich“, antwortet diese. Sie habe versucht, diese Machtverhältnisse zu entziffern, zu analysieren, wie sehr der westdeutsche Kapitalismus in ihrer DNA stecke, und welche Möglichkeiten zum Exorzismus es gebe. Ihr Rat: „Bildet Banden!“
Die Frage der Schichtzugehörigkeit, der Milieus, ist das große Thema des Abends, wichtiger noch als das „Making of Selbst“ (aber auch untrennbar damit verknüpft). Das größte Tabu in Deutschland sei zuzugeben, dass die Klassen nicht durchlässig sind, befindet Jan Böttcher. „Ich glaube, als Kind erliegt man der Illusion, sie seien durchlässig“, sagt auch Dilek Güngör. Und fügt hinzu: „Rückblickend bin ich überrascht, wie weit ich mit meinen Voraussetzungen gekommen bin. Das ist eine große Leistung, die ich mir selbst lange nicht anerkannt habe.“
Matthias Nawrat hingegen stört sich ein wenig an dem Diskurs, der ihm „zu eng“ ist. Es gebe viele Dimensionen, sagt er, „niemand ist einfach nur Herrschender oder Beherrschter, das ist vom Kontext abhängig“. Daniela Dröscher wirft daraufhin eine These Pierre Bourdieus ein, laut der Künstler zwar vom Kapital der Herrschenden abhängig, dennoch privilegiert seien. „Literatur darf nicht darauf reduziert werden und nur Stichwortgeber sein“, entgegnet Nawrat. „Jedes literarische Werk wird vor dem Hintergrund des aktuellen Diskurses gelesen, das ist nicht ausblendbar. Literatur kann das aber unterlaufen.“
Zum Abschluss spielt Jan Böttcher drei Lieder, alle ebenso persönlich wie die Texte und Diskussion, die wir gehört haben; in einem der Songs etwa thematisiert er die Geburt seines ersten Sohns und den Tod seiner Mutter, was im Zeitraum von nur sechs Wochen geschah. Die Songzeile, mit der er den Abend beendet, lautet: „Wir werden existieren.“ Das ist doch schon mal etwas. Und wenn wir uns aus dieser bloßen Existenz noch ein Selbst erschaffen, umso schöner.
Am 11. Juni 2019 geht es bei „I Am Not A Robot!“ mit Texten von Hannes Bajohr, Sarah Berger, Christiane Frohmann und Klangkunst von Carsten Schneider mit „Texte, Sounds, Diskurse“ weiter. Moderieren wird Tom Bresemann.
Die Bloggerin und Journalistin Isabella Caldart berichtet in 2019 regelmäßig über unsere KOOKread-Veranstaltungen im ACUD-Studio.