Mehr als feministisch
Ein feministischer Diskurs alleine reicht nicht aus, er muss vielmehr auf eine intersektionale Perspektive erweitert werden, um alle Menschen zu erreichen. Was ist das und wie kann das gelingen? Unter dem Titel „Big Witch Energy“ diskutieren intersektionale Feministinnen genau diese Fragen.
Der sechste Abend der Reihe „Texte, Sounds, Diskurse“ birgt gleich zwei Neuerungen: Erstmals findet er im Club im ACUD statt, der aus allen Nähten platzt. Außerdem wird die Veranstaltung, gemäß dem Motto „Big Witch Energy. Crossroads of intersectional Feminism“, auf Englisch und mit internationalen Gästen gehalten. Damit auch das Publikum auf einem ähnlichen Wissensstand ist wie die Künstlerinnen, liest Kuratorin Rike Scheffler zur Einführung zunächst einen kurzen Text aus dem Buch „Living a Feminist“ von Sarah Ahmed, bevor sie das Konzept der Intersektionalität erläutert. Der Begriff geht zurück auf die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw, die ihn Ende der achtziger Jahre einführte. Er beschreibt die Überschneidung (englisch: intersection) von verschiedenen Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus, Ableismus oder Klassismus. Eine intersektionale Perspektive beleuchtet die sich daraus ergebenen Mehrfachidentitäten in ihren möglichen Mehrfachdiskriminierungen.
Danach betritt die dänische Lyrikerin und Schriftstellerin Mette Moestrup die Bühne und liest auf Dänisch, Englisch und Deutsch einige ihrer Gedichte vor – wobei „vorlesen“ als Beschreibung zu kurz greift, denn Moestrups Vortragsweise ist stark rhythmisiert und musikalisch. „Sometimes I’m a middle-aged white women“, erläutert Moestrup ihre Performance im anschließenden Gespräch mit Rike Scheffler, deswegen tue sie gerne Unerwartetes. Besonders bemerkenswert ist das Gedicht „Geld“ („Penge“ auf Dänisch), in dem „my hatred to money“ betont wird. In Dänemark, so erzählt die Lyrikerin, sei es verboten, Geld zu zerstören – was Mette Moestrup nicht davon abhält, dies auf der Bühne dennoch zu tun. „Geld“ ist in ihrem Lyrikband „Stirb, Lüge, stirb“ zu finden, das vor zwei Jahren auf Deutsch erschien. Darin adressiert sie nicht nur die Lügen und Dinge, die verschwiegen werden (in Dänemark etwa die Rolle, die das Land während der Sklaverei innehatte), sondern setzt sich mit dem Weißsein auseinander, ein Thema, das in Dänemark erst sehr spät überhaupt diskutiert wurde.
May-Lan Tan, die für ihre Kurzgeschichtensammlung „Things to Make and Break“ unter anderem vom Guardian und der New York Times hochgelobt wurde, liest Exzerpte ihrer Texte vor („Julia Kristeva fan fiction“, scherzt Tan) die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven geschildert sind und zumeist von drei Personen handeln. „I observed that relationships rely on a third person“, sagt sie dazu, wobei mit dieser dritten Person nicht unbedingt Partner*innen im sexuellen und emotionalen Sinne, sondern auch etwa Freund*innen oder Therapeut*innen gemeint sein können. Mit Intersektionalität kennt sich May-Lan Tan aus, wie sie erzählt: Geboren wurde sie in Hongkong als Kind von indonesischen Migrant*innen, aufgewachsen ist sie in England, seit einigen Jahren lebt sie in Berlin. „Ich hatte nur die Hälfte des Puzzles, das der Einwanderin“, sagt sie rückblickend, während ihr von ihren Eltern die Hälfte als Frau und der damit einhergehenden Diskriminierung nie vermittelt wurde. Ein wichtiges Thema, denn: „Bei Intersektionalität geht es nicht nur um Identitäten, sondern auch um Gerechtigkeit.“
Für die musikalische Begleitung des Abends sorgt die haitianisch-kanadische Sängerin Mélissa Laveaux, deren Musik zwischen Blues, Folk, Rock, Voodoo und Critical History changiert – vor allem auf ihrem Album „Radyo Siwèl“ aus dem Jahr 2018, in dem sie sich mit ihren haitianischen Wurzeln auseinandersetzt. Voodoo, so Laveaux, sei „related to queerness“. Sie selbst ist eine Hexe „out of necessity“, und sieht sich vor allem als „herbalist“ und „plant witch“. Sie begann, sich intensiver mit diesem Thema zu beschäftigen, nachdem ihre Ex-Frau sie verlassen hatte und, so fügt Laveaux anekdotenreich hinzu, von ihrer Großmutter verflucht wurde. Inzwischen ist Hexe sein ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. „Everything I do, I like to think of as a prayer”, sagt die Sängerin. Dies sei ihre Form des Überlebens und Dankbarkeit zeigen zugleich.
Den theoretischen Teil des Abends liefert Emilia Roig, die Gründerin und Leiterin des Center for Intersectional Justice in Berlin. Zunächst wirft sie Fotos von Sojourner Truth, Kimberlé Crenshaw, Audre Lorde, bell hooks und Angela Davis an die Wand, um an diese wichtigen schwarzen Feministinnen zu erinnern. Aus gutem Grunde: Der Mainstream-Feminismus ist noch immer weiß und privilegiert. „The focus on race is lost in Europe“, kritisiert Roig. Vor allem in Deutschland, wo allein das Wort „Rasse” verpönt ist, sei es schwierig, nicht augenblicklich auf Abwehr zu stoßen. Sie zitiert in ihrem Vortrag mehrfach Audre Lorde, die unter anderem sagte: „It is not our differences that divide us. It is our inability to recognize, accept, and celebrate those differences.” Danach benennt Emilia Roig die Systeme, die konstituierend sind für sämtliche Formen der Ungleichheit, diese wiederholen und dadurch aufrechterhalten: Patriarchat, Rassismus, Kapitalismus. Deswegen sei es wichtig, sich statt auf einzelne Identitäten wieder auf die Systeme zu konzentrieren. Intersektionalität sieht sie als „movement, tool, theory, perspective“, um die Welt zurückzugewinnen und neu zu gestalten. Und anhand Trump oder der AfD könne man eine „expression of change happening, of moving forward“ erkennen, so schwierig es auch sei, die Vogelperspektive dafür zu bekommen. „There is no reason to be optimistic“, so Roig, aber man müsse auf den Prozess vertrauen, darauf, dass dies Teil einer größeren Bewegung sei, und auch darauf, dass Poesie und Kunst eine Veränderung hervorrufen können – auch wenn diese vielleicht nicht mehr während unserer Leben geschähe. Ihren Vortrag beendet sie mit einem ihrer Lieblingszitate von der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy: „Another world is not only possible, she is on her way. On a quiet day, I can hear her breathing.”
Diese andere Welt, von der Arundhati Roy träumt, wie könne diese aussehen, fragt Rike Scheffler in der anschließenden Diskussion als erstes. Während Mélissa Laveaux sich als großer Star-Trek-Fan outet und die in den Serien gezeigte Welt ohne Geld für erstrebenswert hält, träumt May-Lan Tan von einer Welt ohne Grenzen und einer neuen Sprache „to express how we feel“, während Emilia Roig auf eine Zukunft hofft, in der „being more important than doing“ ist. Danach wird, dem Motto der Veranstaltung entsprechend, über Hexerei gesprochen, womit sich vor allem Mélissa Laveaux und Mette Moestrup identifizieren. Letztere verrät, dass sie gerne mit Äpfeln und dem Symbol Dreieck arbeitet und für sich kleine Rituale entwickelt hat, die sie spaßeshalber „performance for no-one“ nennt. Laveaux hingegen hat eine Faszination für Nummern und erzählt, dass sie jeden Morgen geplant unter der Dusche weine, ihre „time to grief every day a little bit“, um danach gestärkt in den Tag zu gehen.
Aus dem Publikum kommt an Mélissa Laveaux die Frage, was sie mit ihrer Aussage, die karibische Identität hänge mit Queerness zusammen, genaue meine. Dies ist eine Theorie, die noch bewiesen werden müsse, sagt die Sängerin. Der Zusammenhang sei vor allem „spiritually related“, weil die „divinities“ im Voodoo ein breites Spektrum der Gender abdecken. In diesem Kontext sind gerade trans und non-binary Personen gefragt, die in Zeremonien als „closest to divinity“ angesehen würden. Nach einem weiteren Gespräch über Bedeutung von verschriftlichen versus oralen Geschichten geht dieser lange, aber sehr interessante Abend zu Ende.
Die letzte Veranstaltung von „Texte, Sounds, Diskurse“ für dieses Jahr mit dem Titel „Hurra, die Welt geht unter – die Lust am Dystopischen“ findet bereits am 10. Dezember im ACUD statt. Zu Gast sind dieses Mal Theresa Hannig, Eckhart Nickel, Philipp Schönthaler und Chris Imler.
Die Bloggerin und Journalistin Isabella Caldart berichtet in 2019 regelmäßig über unsere KOOKread-Veranstaltungen im ACUD-Studio