Konzeptuelle Konstruktionen: abstrakt, aneignend und ästhetisch
Digitale Literatur bedeutet nicht automatisch E-Books, lernen wir an diesem dritten Abend der „Texte, Sounds, Diskurse“-Reihe von KOOKread, sondern vielmehr das Abbilden digitaler Phänomene sowie die Transformation von bereits vorhandenen Texteinheiten in neue Kunst. Klingt kompliziert? Ist es aber nicht.
Kuschelig warm, ein wenig zu warm, ist es an diesem Sommerabend im ACUD-Studio, als „Texte, Sounds, Diskurse“ in seine dritte Runde geht. „I Am Not A Robot“ lautet diesmal das Motto, und eingeladen sind vier Gäste, die in der Tat aus Fleisch und Blut bestehen: Christiane Frohmann, Hannes Bajohr, Carsten Schneider und Sarah Berger, Expert*innen für konzeptionelle und digitale Literatur und Kunst. Tom Bresemann, der Kurator des heutigen Abends, hält dabei fest, was mit „digitaler Literatur“ gemeint ist: konzeptuelle Literatur mit verschiedenen Mitteln.
Wie unterschiedlich und ungewöhnlich diese Mittel sein können, zeigt bereits die erste Lesung. Hannes Bajohr, der im vergangenen Jahr „Halbwertszeit“ bei Suhrkamp veröffentlichte, ein Lyrikband, der als „Textverarbeitung“ gelabelt ist, trägt einige seiner Gedichte vor – wenn man seine Werke überhaupt als „Gedichte“ bezeichnen kann. Bajohr arbeitet mit vorgefundenem Material, das nach einer bestimmten Regel verarbeitet wird, wodurch ein neuer Text entsteht. So durchleuchtete er mithilfe der Software Casual Conc den gesamten Textkorpus Kafkas nach dem Wort „Opfer“, um mit den „Opfer“-Zeilen ein neues Gedicht anzuordnen. Wie komisch diese Form der Textverarbeitung sein kann und wie entlarvend für die Originalvorlage, zeigen weitere Beispiele. Etwa das Gedicht „Was man muss“, für das er Ratgeberbücher für das mittlere Management nach der Formulierung „Sie müssen…“ durchsuchte und diese der Länge nach sortierte. Oder, noch besser sogar, „Über mich selbst“, was in Zusammenarbeit mit Gregor Weichbrodt entstand. Für dieses Gedicht suchten die beiden Autoren in 7.000 Profilen heterosexueller Männer auf Parship die Formulierung „Ich bin“ und fügten diese Selbstbeschreibungen zu einem Text zusammen – „das klingt sehr heterosexuell und männlich“, kommentiert Bajohr trocken. Danach wird es abstrakt: Hannes Bajohr lässt Klanggedichte von Computern auslesen, die beispielsweise als .jpg und .docx gespeichert sind. „Der Inhalt ändert sich nicht, aber die Ausleseregel, die Datenstruktur“, erklärt er. Auf Papier funktioniert das natürlich nicht, aber: „Im Buch gibt es einen Link dazu.“
Weniger experimentell geht es bei Christiane Frohmann zu, die Autorin, Veranstalterin und Inhaberin des Frohmann Verlags ist, und zugleich die „Klammer zwischen Hannes Bajohr und Sarah Berger“, wie sie feststellt: Sie hat von beiden Autor*innen bereits Bücher verlegt. 2012 gründete sie ihren Verlag, da sie im Internet immer wieder Texte las, die sie als Literatur wahrnahm, aber in der klassischen Verlagsstruktur keinen Rahmen hatte. Das seien nicht nur „Star-Twitter*innen, die von Verlagen weggecastet wurden, um Längeres zu schreiben“, so Frohmann, denn auch die kurzen Formen haben Aufmerksamkeit und Respekt verdient. Die im Frohmann Verlag publizierten Formen können mitunter auch unzugänglich sein: „Ich bekomme die unlesbaren Sachen von Hannes“, sagt sie im Scherz, „während er mit ‚Halbwert‘ zu Suhrkamp durfte“. Beim Lektorat seiner Texte spüre sie Stellen im Gehirn, die „normale“ Bücher niemals berühren. „Nach meinem Ableben stelle ich mein Hirn der Charité zur Verfügung.“ Aus Christiane Frohmanns Feder selbst stammt der Band „Präraffaelitische Girls erklären das Internet“ (unbedingt auf Twitterfolgen). Sie finde die Meme Culture faszinierend, sagt sie, und zugleich die Kunst der Präraffaeliten, die „haarscharf am Kitsch“ vorbeischrammen (und, nebenbei bemerkt, unglaublich genervte Frauen abbilden). „Gehässige, harte und analytische Sätze“ mit süßen Bildern kombinieren, habe einen „eigenen Reiz entwickelt“, so Frohmann.
Christiane Frohmann ist auch diejenige, die die Performance von Sarah Berger ankündigt, „nicht jugendfrei“, wie sie warnt. Die Performance ist nicht nur nicht jugendfrei, sondern auch extrem schwierig zusammenzufassen. Sie besteht aus dem Video „The Daughters of the Revolution“, das Gedanken, Fotos, Tweets und Chatverläufe übereinanderlegt – viele von ihnen mit sexuellem, oft auch übergriffigem Inhalt –, zu dem Berger sich vor Publikum komplett auszieht und mit Strumpfhose und Perücke neu einkleidet (samt pinkfarbenem Gaffer-Tape, mit dem sie ihre Brustwarzen abklebt, denn sie streamt diese Performance live auf Instagram), mit Musik unterlegt per Selbstauslöser Fotos von sich macht und einen teils expliziten Text über Erfahrungen mit der Datingplattform Tinder und feministische Selbstermächtigung vorträgt.
Nach der Pause betritt Carsten Schneider die Bühne, der mit Audio, Text und Collagen arbeitet. Auch er hat Ungewöhnliches im Gepäck: den „Atem eines Tages“. Dabei handelt es sich um alle Atemzüge, die im Laufe eines Tages auf Deutschlandfunk gesendet werden, gut eine Stunde lang geht diese Soundcollage, von der wir einen kurzen Ausschnitt hören. Würden die Redakteure aufhören zu atmen, hätten sie entsprechend mehr Sendezeit, sagt Schneider mit einem Schmunzeln. „Ich hab‘ denen das auch geschrieben.“ Danach wird es noch skurriler: Es folgen Stücke wie die „S-Laute eines Tages“, die Orte, Menschen oder Zahlen eines Tages, der Verkehr eines Jahres oder das zweite „N“, das jeden Tag im Verlauf eines Jahres im Deutschlandfunk gesprochen wurde. Auf diese Idee muss man erstmal kommen.
Anschließend diskutieren Hannes Bajohr, Christiane Frohmann, Sarah Berger und Carsten Schneider mit Moderator Tom Bresemann über ihre Kunstformen. Bresemann identifiziert sie als „klare Emanzipationsbewegung vom klassischen Literaturbetrieb“, zugleich als Spiel mit Identität, Fiktion und Autor*innenschaft, die eine digitale Funktionsweise haben. Vor wenigen Jahren war das Umwandeln von bereits vorhandenen Werken in neue Kunst noch „State of the Art“, sagt Frohmann dazu, bis das durch die „antiaufklärerische Haltung im Netz“ ins Wanken kam, weil man merkte: Auch die Neue Rechte zeigt sich durchaus kreativ. „Die haben Style, das ist teilweise ästhetisch und stilistisch gelungen“, sagt Frohmann; man könne quasi live beim Produzieren von Verschwörungstheorien zuschauen, und „das regt mich noch mehr auf“. Dadurch wurde sie mit dem Frohmann Verlag publizistisch viel klassischer, denn: „Einen reinen Ästhetikverlag zu haben geht nicht mehr.“
Bresemann wendet sich an Sarah Berger. Einerseits gebe es bei ihr eine absolute Transparenz durch das Abbilden von Chatverläufen, andererseits käme durch die Performance das Spiel mit der Autofiktion hinein. Berger wiegelt ab: Die Chats etwa seien mit wenigen Mausklicks selbstgestaltbar. „Das Digitale hat dazu geführt, dass wir alles glauben“, so Berger, „und damit spiele ich. Wir alle hier eignen uns die Realität an und transformieren sie. Interessant, dass angenommen wird, alles sei echt.“ Und die Motivation von Carsten Schneider, seine Klangcollagen, die „Dekonstruktion des Deutschlandfunks“, zusammenzustellen, ist eine ganz simple, wie er verrät: „Ich wollte wissen, wie das klingt.“ Da es keine andere Möglichkeit gibt, sagte er sich: „Also mache ich das!“
Danach fragt Tom Bresemann nach dem Verhältnis vom analogen zum digital Konzeptuellen oder konkreter, wie die kapitalistische Welterfahrung im Verhältnis zur Zunahme der medialen Welterfahrung sei. Christiane Frohmann erlebte, dass sie im Netz über die Jahre zum literarischen Schreiben fand und irgendwann merkte: „Hoppla, ich kann das!“, und dadurch ein Selbstbewusstsein entwickelte. Und für Sarah Berger ist die Möglichkeit, im Netz schnell etwas zu veröffentlichen, „eine Form der Befriedigung“. Aus den Reaktionen auf ihre Texte entwickelt sie dann ebenfalls Kunst. „Daraus entsteht eine Flechte von Material.“ Eins auf jeden Fall ist klar: In klassischer Buchform ist Bergers multimediale Performance-Kunst schwer vorstellbar. „Digital auch nicht“, hält Sarah Berger fest, „Instagram hat nur die Bildfläche, Twitter nur Text, ich müsste eine Website programmieren“. Selbst eine Lesung sei zu linear, „ich würde das gerne zufällig abbilden“. Digitalität alleine ist also keine Lösung, sondern Intermedialität – auch wenn dadurch noch nicht die Linearität aufgebrochen wird. Aber es ist ein Anfang.
Dieser interessante wie komplexe Abend wird bei dem ein oder anderen kühlen Bier beendet. Nach einer Sommerpause geht es am 20. August 2019 weiter mit der nächsten „Texte, Sounds, Diskurse“-Veranstaltung. Das Thema ist noch offen. Nahezu sicher ist aber: Kuschelig warm wird’s bestimmt auch.
Die Bloggerin und Journalistin Isabella Caldart berichtet in 2019 regelmäßig über unsere KOOKread-Veranstaltungen im ACUD-Studio.