KOOKread „Hurra, die Welt geht unter! – Die Lust am Dystopischen“
Passend zum Jahresende lud KOOKread im Dezember zu einer diskursiven Lesung zum Thema Weltuntergang und Dystopie ein. Zusammen mit dem Lyriker und Kurator des Abends Tim Holland begaben sich die Autor*innen Theresa Hannig, Eckhart Nickel, Philipp Schönthaler und der Musiker Chris Imler auf die Suche nach dem Reiz des Untergangs und fragten sich auch, welche Rolle Utopien eigentlich spielen.
„Die Ästhetik des Untergangs: Woher kommt diese Lust daran? Warum braucht es Dystopien und warum gibt es eigentlich keine Utopien?“, fragt Moderator und Kurator Tim Holland zu Beginn des Abends der Veranstaltung „Hurra, die Welt geht unter! – Die Lust am Dystopischen“ im Acud-Club in Berlin Mitte. Dicht gedrängt sitzen auf Plastikklappstühlen vor der kleinen Bühne die Gäste – es ist richtig voll. Weltuntergang am Jahresende, ein gut gewähltes Thema. Vor allem aber allgegenwärtig: Klimakatastrophe. Anhaltende Kriege. Weltweiter Rechtsruck. Themen, die nicht erst seit gestern unsere Nachrichten dominieren und die natürlich auch zu Stoff literarischer Texte geworden sind. Mit Blick auf das Line-Up wird klar, Holland hat sich Autor*innen eingeladen, deren Dystopien unterschiedliche Ansätze haben. Sie verhandeln Themen, die absolut gegenwärtig sind, und teilweise auf frühere Dystopien verweisen und diese somit weiterentwickeln. Zunächst liest Philipp Schönthaler, gefolgt von Theresa Hannig und einem musikalischen Auftritt von Chris Imler. Nach einer kurzen Pause geht es weiter mit Eckhart Nickel, einer Gesprächsrunde sowie einem abschließenden Auftritt von Imler.
Philipp Schönthaler liest aus dem Anfang seines Romans „Der Weg aller Welten“ (Matthes & Seitz Berlin): „Ohne, dass etwas Bemerkenswertes vorgefallen wäre, hatte ich von einem auf den anderen Tag keinen Zutritt zum Campus mehr. Zunächst machte ich mir keine weiteren Gedanken. Es war unangenehm, etwas ärgerlich, aber im Grunde eher peinlich.“ Der Ich-Erzähler Schönthalers arbeitet im Silicon Valley und kommt nicht durch die Sicherheitsschleuse seiner Techfirma. Schnell erfährt man, dass ohne Authentifizierung in seiner Welt nichts geht und diese über einen Handvenenabdruck erfolgt, der weitaus effektiver sein soll als der gewöhnliche Fingerabdruck. Fragen nach Identität und Zusammenleben im technologischen Zeitalter machen sich auf: Denn was bedeutet es in einer Welt zu leben, in der im Prinzip einem niemand mehr glaubt, wer man ist beziehungsweise die Tatsache keine Rolle spielt. So steht auch der Ich-Erzähle nicht alleine vor dieser Schranke, sondern mit Menschen, mit denen er zusammenarbeitet. Doch das hilft ihm nicht, auch weil dort weit und breit kein menschliches Personal arbeitet. Allein Technik umgibt ihn, und diese sagt, er sei nicht registriert.
Schönthaler ist so etwas wie ein Experte was Weltuntergangsstimmungen in der jüngeren Vergangenheit betrifft. In seinem Buch „Survival in den 80er Jahren“ setzt er sich mit der Ratgeberliteratur der damaligen Zeit auseinander, die beherrscht war von Angst vor dem Wettrüsten, Waldsterben, Kernkraft oder wachsender sozialer Unsicherheit – wie es auf der Verlagsseite heißt. Im Zeitalter der Digitalisierung liegt bei Schönthaler die Bedrohung in der Technik selbst: Der Mensch schafft sich ab und an seiner Stelle treten Maschinen, Daten und Scanner.
Auch in der näheren Zukunft spielt Theresa Hannigs Geschichte „Die Unvollkommenen“ (Bastei Lübbe): Im Jahre 2057 ist aus der EU eine Bundesrepublik (BEU) geworden, in der Menschen durch eine KI überwacht in einer „Optimalwohlökonomie“ leben. Außerhalb dieser BEU herrschen Krieg und Verwüstung. Auch Hannig liest den Anfang vor, in dem ihre Protagonistin Lila aus einem langen Schlaf erweckt wird: „Lila, du träumst“, sagt das rote Licht wieder. „Spinnen haben keinen Stachel.“Sie befindet sich in einem Gefängnis, das allerdings mehr an ein 5-Sterne-Hotel erinnert. Eine Rezeptionistin bringt Lila in ihre Suite, mit Kingsize Bett und mehreren Zimmern. Warum Lila dort ist, weiß sie auch nicht. Erst als ein gewisser Samson Freitag sie in ihrem Gemach besucht, wird klar, irgendwas stimmt hier gewaltig nicht. Freitag scheint der Diktator dieser BEU zu sein, und derjenige, der Lila vermutlich hat einsperren lassen. Eine bessere Welt durch das Ausgrenzen anderer, Aspekte, die auch schon in Huxleys „Brave New World“ vorkommen. Sie interessiere sich für das platonische Prinzip, erzählt Theresa Hannig, „Der eine perfekte Staat wie ihn Sokrates schildert“, es ginge ihr darum, dieses Prinzip auszureizen, zu überspannen und zu schauen, was passiert, wenn es überspannt ist.
Um eine kulinarische Dystopie handelt es sich bei „Hysteria“ (Piper) von Eckhart Nickel. Der Autor, der von 2004 bis 2006 zusammen mit Christian Kracht die Literaturzeitschrift „Der Freund“ herausgab, kennt sich aus mit Luxus und Essen. Als Journalist schreibt er über Stil, Mode und Ästhetik. Um Essen und Ästhetik geht es auch gleich zu Beginn von „Hysteria“, den Nickel vorliest: Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht. Die kleinen geflochtenen Holzschalen, die Bergheim auf dem Markt immer hochhob, um zu sehen, ob sich das weiße Vlies am Boden schon von zerfallenden Früchten rötlich verfärbte, waren übervoll mit zu dunklen Beeren.Der Homepagetext verrät: Aufder Suche nach dem Rätsel ihrer Beschaffenheit und Herkunft gerät Bergheim immer tiefer in eine kulinarische Dystopie, in der das Natürliche nur noch als absolutes Kunstprodukt existiert, weil das Künstliche längst alle Natur ersetzt hat. „So dystopisch in der Zukunft sehe ich die Geschichte eigentlich nicht“, erzählt Eckhart Nickel, vielmehr sei sie Abbild seiner Erfahrungen in Kalifornien, wo der Autor längere Zeit gelebt hat, „Ich habe das beschrieben, was ich dort gesehen und erlebt habe.“
Drei Welten, die politischen wie gesellschaftlichen Zeitgeist aufgreifen, weiterspinnen und auf die Spitze treiben – besonders furchteinflößend sind alle drei nicht, dafür sind die Lesungen amüsant, die Texte hören sich ironisch an und die anskizzierten Gedankenexperimente sind vor allem interessant. Als Einmannband und Sänger verleiht Chris Imler dem dystopischen Abend seinen Klang seine Liedtextfetzen wie : „Das ist das Ende der Welt“/ „Ich appelliere an Menschen und Tiere“/ „Freiheit ist die Freiheit simultan.“, durchdringen seine teils lauten Töne. Als er kurz vor der Wende nach Berlin gekommen sei, erzählt Imler, sei die Stadt negativ gewesen. Die 80er Jahre mit Tschernobyl, saurem Regen und Raketen spiegelte sich auch in der Gesellschaft wider, allerdings hätten die Menschen das weniger Ernst genommen als heute. An die 80er erinnert auch seine synthie- und beatlastige Musik mit hartem Schlagzeug-Rhythmus. Stehen geblieben ist der Sound aber nicht in den 80ern, Imler hat ihn mitgenommen in das Jahr 2019 und weiterentwickelt.
Als reine Dystopien sehen die drei Autor*innen ihre Texte allerdings nicht. Viel mehr verstehen sie sich als Sensoren für die Gegenwart, die Hysterie oder Technologiewahnsinn nachspüren und Ängste in Geschichten übersetzen. Doch welchen Einfluss kann Literatur auf eine (lesende) Gesellschaft ausüben, wenn keine anderen Szenarien geschaffen werden, außer denen, die sich bereits als Ängste und Annahmen gesellschaftlich manifestiert haben? „Nach den spaßigen 90er Jahren, die der 11. September abrupt beendet hat, haben sich die Menschen an Dystopien gewöhnt“, sagt Theresa Hannig. Für die Autorin sei es an der Zeit Utopien zu schreiben, um die Menschen daran zu erinnern, dass wir alle politischen Einfluss nehmen und die Gesellschaft zu einer besseren machen können<. Literatur als Empowerment, dafür gab es Applaus.
Zu kurz war die Gesprächsrunde, um wirklich tief in einzelne Fragen einzutauchen, aber das erwartet man auch nicht – vor allem bei vier Gästen, drei Lesungen und einem Minikonzert. So entließ der Abend mit interessanten Denkanstößen und gab Einblick in literarische Übersetzungen unserer Gegenwart – und die kann man ja zum Glück erkunden, man muss sich nur die Bücher besorgen.
Lara Sielmann arbeitet als freie Journalistin (u.a. Tagesspiegel, FANN Magazin, HKW) und Moderatorin. Sie ist Teil des Labels für junge Literaturvermittlung „Kabeljau&Dorsch“ und ist Vorstandsvorsitzende des Vereins „Unabhängige Lesereihen“. Im Herbst 2019 leitete sie „ULF – Unabhängige Lesereihen Festival“ mit. Sie lebt in Berlin.